Guten Tag!
Ladenburg/Kairo, 12. Oktober 2010. In Kairo haben sich zwölf arabische und sechs deutsche „Blogger“ getroffen, um zum interkulturellen Austausch zwischen der muslimischen und westlichen Welt beizutragen. Zum ersten Young Media Summit 2010. Mit dabei: der für das ladenburgblog verantwortliche Journalist Hardy Prothmann. Es war eine aufregende Reise – vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen „Debatte“ über „Integration“. Ein Erfahrungsbericht.
Von Hardy Prothmann

Kairo bei Nacht.
Ich war ein wenig erstaunt, als unser neuer Bundespräsident Christian Wulff (CDU) zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit am 03. Oktober postulierte: „Auch der Islam gehört zu Deutschland.“
Ist das so?
Das Staatsoberhaupt wurde sofort von erzkonservativen CDU- und CSU-Politikern dafür kritisiert und zurecht gewiesen: „Zwar ist der Islam inzwischen Teil der Lebenswirklichkeit in Deutschland, aber zu uns gehört die christlich-jüdische Tradition“, sagte der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU) laut Bild-Zeitung vor wenigen Tagen.
Der Islam gehört zu Deutschland vs. Einwanderungsstopp.
Aktuell fordert der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) den Immigrationsstopp für Muslime, insbesondere Türken und Araber.
Ich habe den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit abends in der Deutschen Botschaft in Kairo gefeiert. Als ein Mitglied einer „Delegation“ von 18 deutschen und arabischen „Bloggern“. Rund 1.000 internationale Gäste nahmen an der Feier auf Einladung des deutschen Botschafters Michael Bock teil.
Einigkeit. Recht. Freiheit.
Ein arabischer Junge sang die ägyptische Nationalhymne und dann die deutsche: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“
Damit bin ich auch schon beim Thema und dem, was „Blogger“ tun: Sie äußern ihre Meinung, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Sie postulieren für sich das Recht und die Freiheit sich äußern zu können. Mit der „Einigkeit“ ist das im Verhältnis zur Freiheit so eine Sache. Das verbindende Element ist das Recht. Und das ist von Land zu Land sehr verschieden und nicht unbedingt gleichzusetzen mit Freiheit oder Einigkeit.
„Bloggen“ ist ein relativ neues Phänomen. Mitte der 90-er Jahre gab es die ersten „Blogs“ – so genannte „Internet-Tagebücher“ (web-log). Etwa 2004-2005 entwickelte sich das Bloggen rasant. Heute gibt es Millionen „Blogs“, die meisten davon „Personal-Blogs“, also Internetseiten, die persönliche Sichtweisen enthalten, aber auch zunehmend professionelle Blogs.
So etwa das ladenburgblog, dass durchaus die Funktion einer „Zeitung“ hat, das aber nicht ist und sein will. Blogs sind direkter, persönlicher, meinungsfreudiger als „traditionelle Medien“, denn auch der „Journalismus“, der so wenig genau definiert ist wie das „Bloggen“, befindet sich in einem fundamentalen Wandel.
In der arabischen Welt – in der deutschen Welt. Auch in anderen Welten.
Da auch immer mehr Journalisten „bloggen“, habe ich mich bei der Gründung eines lokaljournalistischen Angebots für den Namen heddesheimblog entschieden, weil mir „Die Heddesheim-Zeitung im Internet“ als Begriff nicht gefallen hat. Später kamen das hirschbergblog und das ladenburgblog hinzu. Zudem benutze ich eine „Blog-Software“ – die den neuesten Artikel immer als ersten anzeigt, aber frühere Artikel über viele Archivfunktionen finden lässt.
Viele Fragen.

Eman Hashim - Augenärztin, Bloggerin, Muslimin.
Das Treffen deutscher und arabischer Blogger hat die Deutsche Welle zusammen mit dem Deutschen Zentrum der Botschaft organisiert, als interkulturellen Austausch.
Warum bloggt wer in welchem Land wie? Welche Themen gibt es? Gibt es Zensur? Tabus? Was heißt es, zu schreiben und zu lesen? Wie geht das im jeweiligen Land? Welche Rolle spielen die Frauen?
Unter den 18 Teilnehmern bin ich der einzige, der seine „Blogs“ als Journalist geschäftlich betreibt, damit also seinen Lebensunterhalt verdient. Die meisten anderen wollen einfach nur „ihre Gedanken äußern“, sich der Welt mitteilen.
Und genau das war mehr als interessant und Ziel dieser Veranstaltung – der Austausch von Gedanken. Und damit der Abbau von „Blockaden“, die so ziemlich das Gegenteil von „Bloggen“ sind.
Leider haben fast alle der arabischen Blogger jede Menge Probleme mit Blockaden. Systembedingt. Nicht mit, sondern wegen des Austauschs von Gedanken.
Denn in der arabischen Welt ist der Austausch von Gedanken jenseits des „geltenden Rechts“ oft ein großes Problem für die, die für sich das Recht der freien Meinungsäußerung in Anspruch nehmen.
Verantwortlich dafür sind nicht die Araber an sich, sondern die, die die Macht in den arabischen Ländern haben. Darin unterscheiden sich arabische Länder nicht von anderen Ländern.
„Die Familie ist der erste Zensor.“
Yassin Al-Hussen beschreibt das sehr gut in einem Interview, das ich mit ihm geführt habe. Sein Vater ist Syrer, seine Mutter Spanierin. Er lebt in Spanien. Auf die Frage, warum er keine politischen Texte schreibt, sagt er:
„Ich könnte kritisch schreiben, selbst, wenn ich in Syrien leben würde: Über Religion, über Sexualität, sogar Homosexualität oder andere soziale Themen. Die rote Linie ist die Politik. Man kann nicht kritisch über Regierungsangelegenheiten bloggen. Das führt sehr sicher zu Konsequenzen. Die erste ist: Sie machen dein Blog zu. So, wie es kein facebook, wikipedia oder youtube in Syrien gibt. Die zweite Konsequenz wäre möglicherweise eine Verhaftung – wenn aus Sicht des Staates kritisch geschrieben wird, braucht es keine Argumente oder eine Anklage.“
Ich frage: Aber in Spanien muss dich das nicht interessieren?
„Wenn ich nicht mehr nach Syrien reisen wollte, stimmt das. Aber: Mein Vater lebt dort und andere Personen meiner Familie. Die würden zumindest unter Druck gesetzt werden. Die Familie ist der erste Zensor.“
Die Familie also. Die Abstammung. Die Herkunft. Die kleinste Zelle einer jeden Gesellschaft, in der so viel festgelegt wird, was später entscheidend sein wird. Ob man Araber oder Deutscher ist. Ob man höflich ist oder ablehnend. Oder man zwischen den Welten wandelt.
Yassin (26) ist Moslem und studiert im christlichen Wallfahrtsort Santiago de Compostella Medizin und macht bald seinen Abschluss. Er sagt von sich selbst, dass er „bloggt“, um „das Chaos in meinem Kopf zu strukturieren“.
Chaos überall.
Ob das Chaos mit seiner christlich-islamischen Herkunft zu tun hat, habe ich ihn nicht gefragt. Dafür war zu wenig Zeit. Denn die Probleme, die man damit anspricht, sind zu groß, um in wenigen Tagen vertrauensvoll besprochen werden zu können.
Nach diesen fünf Tagen in Kairo weiß ich das. Es gibt dieses Chaos zwischen der arabischen und der westlichen Welt. Und Yassin, ein überaus freundlicher, kluger und interessierter junger Mann ist das beste Beispiel dafür, weil er in beiden Welten lebt.

Im Vordergrund Yassin: Spanier und Syrer. Araber und Europäer. Medizin-Student und Blogger. Beschämt und stolz.
Yassin ist kein bisschen verantwortlich für das Chaos – er muss es aber erleben. Er schämt sich für die arabische Welt, wenn er feststellen muss, dass man als Ausländer in Ägypten übers Ohr gehauen wird, sogar er, als arabischer „Bruder“.
Aber er genießt zugleich die außerordentliche Gastfreundlichkeit, die Wärme und die Zuvorkommenheit, die es auch nicht im Ansatz in der westlichen Welt gibt.
Mir geht es genauso, weil auch ich Chaos erleben muss. Eines wider besseren Wissens. Nicht eines, dass sich irgendwie ergeben hätte, sondern das geschürt wird, gewollt wird, das inszeniert wird.
Von „sehr anständigen und von der Gesellschaft geachteten“ Menschen im feinsten Zwirn wie Herrn Bosbach oder Herrn Seehofer und nicht von irgendwelchen „Kanaken von Kameltreibern“, die Herr Seehofer und Herr Bosbach verachten.
Scham und Stolz.
Ich schäme mich für die Versäumnisse der Vergangenheit, keinen Dialog zu führen und keine Integration voranzubringen. Und aktuell dafür, was Politiker wie Bosbach oder Seehofer sagen (die arabische Welt weiß darüber genau Bescheid) und glaube gleichzeitig fest an unsere Verfassung, die Meinungsfreiheit und dass Deutschland ein Vorbild und Freund für andere Länder ist.
Die Familie und später die Umstände entscheiden oft mehr als der freie Wille.
Yassin und mir geht es gut und wir haben die Möglichkeit und nutzen diese, uns öffentlich zu äußern, an der Willens- und Meinungsbildung mitzuwirken.
Es gibt aber große Unterschiede zwischen unseren Welten. Während die Meinungsfreiheit in den arabischen Ländern mühsam erobert werden muss, wird in der westlichen Welt oft zu wenig davon Gebrauch gemacht.
Und wenn in beiden Welten das „Volk“ die Meinungsfreiheit einfordert, sind die Reaktionen in der vermeintlich diktatorisch geprägten arabischen und der vermeintlich freiheitlichen westlichen Welt oft ähnlich, wie das Satiremagazin „Extra 3“ in einem pointierten Beitrag zuspitzt.
Einmal Kairo und zurück hat meine persönliche Welt sehr verändert. Ich habe einzelne Vorurteile bestätigt bekommen, aber ich habe viel mehr Neues über die arabischen Menschen und ihre Länder erfahren, als ich vorher wusste und in keinem VHS-Vortrag und in keinem noch so intensiven Studium je hätte erfahren können.
Die Machthaber in den arabischen Ländern werden das nicht gerne lesen: Es gibt eine große Sehnsucht der Araber nach der westlichen Welt. Einerseits klar nach Konsum, vor allem aber nach der Freiheit. Und ganz sicher nach dem Respekt, als Menschen akzeptiert zu werden.
Bekenntnis zum Glauben.
Gleichzeitig gibt es sehr viel Stolz auf die eigene Identität und die Religion. Deutsche Kirchen würden sich solch offenherzig und selbstverständlich bekennende Christen wünschen, wie die bloggenden Moslems sich präsentiert haben. Ein paar von ihnen trinken Alkohol in Maßen, nicht alle beten fünf Mal am Tag, aber für fast alle ist Allah wichtig und alle betonen die Liebe, die sie in der Begegnung mit Gott erfahren.
Kurzum: Ich habe in diesen fünf Tagen häufiger und intensiver über Gott und Glauben mit anderen Menschen geredet, als in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland. Niemand hat mir diese Gespräche aufgedrängt – ich habe danach gefragt. Und der Islam ist mir von sehr vielen Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern als eine liebenswerte Religion präsentiert worden – dass die islamische Religion seit Jahren schneller wächst als jede andere auf dieser Welt hat vielleicht genau damit zu tun.

Verschleiert und doch im Einsatz für die Menschenrechte:Reem A. Alsa'awy
Auch Reem A. Alsa’awy – eine gläubige Muslimin aus Saudi-Arabien, liebt ihre Religion. Und sie setzt sich für Menschenrechte ein. Als Bloggerin. Fast vollständig verschleiert durch ihr Kleidungsstück Niqab– ich gebe zu, dass dieser Kontrast nicht einfach zu verstehen ist. Dazu haben ich einen Text verfasst, den Sie hier lesen können (Die verschleierte Frau und ihre unverschleierte Meinung).
Oder Osama Romoh, ein gesellschaftskritischer Zeitgeist, der in Dubai lebt und der für seine herausragende Arbeit bereits zweimal prämiert wurde.

Asmaa Alghoul: Fotogen, freundlich und verfolgt. Die kritische Journalistin wurde schon mehrfach verhaftet, weil sie sich für Menschenrechte einsetzt.
Oder Asmaa Alghoul, Palästinenserin ohne Heimat, die in Gaza-Citylebt, eine engagierte Journalistin, die für ihre meinungsstarke Arbeit bereits mehrfach den Zorn der Hamas spüren musste – sie wurde mehrfach verhaftet und ihre Unterlagen konfisziert.
„Wir würden gerne einen Tag der Einheit feiern können.“
Oder Eman Hashim, eine junge ägyptische Augenärztin, die sich in Kairo für Menschenrechte einsetzt, eine bekennende Kopftuchträgerin und für mich die bezauberndste Person der Gruppe, weil ich selten einen so herzlichen Menschen kennengelernt habe, wie diese „strenggläubige“ Frau.
Über alle achtzehn arabischen Teilnehmer zu schreiben, wäre zu viel. Soviel aber muss aufgeschrieben werden: Die zuvorkommende Herzlichkeit war beeindruckend. Ebenso die oft scharfsinnigen Kommentare und der Wille, sich und die eigene Meinung auszudrücken.
Ebenso beeindruckend war die Abschlussveranstaltung, eine Podiumsdiskussion in der Universität Kairo. Rund 120 Gäste waren gekommen – überwiegend junge Studentinnen, fast alle mit Kopftuch und sie stellten jede Menge interessierte und kritische Fragen, wie ich das selten an einer deutschen Universität erlebt habe.
Beschämend fand ich das Verhalten einiger deutscher Mitglieder: Denen war es wichtiger am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit abends die Pyramiden zu besuchen, statt pünktlich zum Empfang des Botschafters zu erscheinen.
Ich bin mit den anderen Deutschen und vor allem mit den anderen arabischen Bloggern als „deutsch-arabische“ Gruppe sehr gerne dieser Einladung gefolgt.
Ganz sicher nicht, weil ich glaube, dass sich dadurch die Welt verändert. Und ganz sicher nicht, weil ich mit der Politik in unserem Land fraglos einverstanden bin.
Aber ganz sicher deshalb, weil ich froh um diese deutsche Einheit bin, um das, was mich tief berührt hat, so wie Millionen anderer Menschen: Wir sind das Volk.
Ein palästinensischer Blogger sagt: „Ich bin sehr froh über diese Einheit. Und ich wünschte, dass wir Palästinenser ebenfalls einen Tag der Einheit feiern könnten.“ Dabei schaut er mich an und ich sehe die Sehnsucht nach Einigkeit und Recht und Freiheit in seinen Augen.
Es gibt ihn, den Willen, sich anzunähern, sich respektvoll zu begegnen. Deswegen war ich sehr froh, ein Mitglied dieses arabisch-deutschen Dialogs zu sein zu dürfen und in diesem Sinne den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit im Ausland zu feiern.
Kontakt.
Diese Haltung, auch als „Botschafter“ für Deutschland vor Ort aufzutreten, hat mich nach meiner Rückkehr viel Zeit gekostet – ausnahmslos alle 18 arabischen Blogger haben via email, Twitter und Facebook den Kontakt gesucht und ihr Interesse bekundet, den gefundenen Kontakt zu halten und zu intensivieren.
Dabei habe ich stundenlang auf englisch gechattet, Kommentare gelesen und verfasst. Und ich wurde gebeten, für die Blogs der neuen arabischen Freunde Beiträge zu verfassen, damit „man hier versteht, dass nicht alle Deutschen so sind, wie Herr Seehofer und die anderen“.
Denn denen fehlt der Wille, ein Zeichen zu setzen und eine Veränderung möglich zu machen.
Ich will das. Ich werde die Beiträge schreiben, auf English, was mich eine sehr große Anstrengung kostet, weil die Texte kompliziert sind und mein Englisch nicht so gut ist, wie ich mir das wünschte.

In Kairo heißt es "Willkommen zum Oktoberfest" - in Deutschland wettert der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer gegen die Zuwanderung von Arabern.
Die Anstrengung leiste ich gerne, weil ich mich den Kollegen in der arabischen Welt verbunden fühle – auch die strengen sich an. Vermutlich oder sogar sicher mehr als ich.
Angestrengt haben sich auch die Journalistenkollegen Matthias Spielkamp und Jens-Uwe Rauhe als Organisatoren für die Deutsche Welle Akademie sowie weitere Mitarbeiter, die ich nicht alle nennen kann, weil ich nicht alle Namen weiß – Frau Römer sei hiermit exemplarisch gegrüßt.
Zu danken habe ich auch den Dolmetschern, die hart arbeiten mussten, denn es galt die Regel, dass die Deutschen deutsch sprechen und die Araber arabisch.
Einen herzlichen Dank richte ich auch an den Leiter des Deutschland-Zentrums an der Deutschen Botschaft, Michael Reiffenstuhl, der sich sehr gut um die Veranstaltung gekümmert und im Kontakt zu Prof. Samy Abdel Aziz, dem Dekan der Fakultät für Massenkommunikation, die Abschlussveranstaltung ermöglicht hat. Und natürlich Herrn Botschafter Michael Bock für die freundliche Einladung. Das Auswärtige Amt hat schließlich die Veranstaltung als Schirmherr möglich gemacht und bezahlt.
Weitere Informationen:
Rund 600 Fotos mit Kommentaren in deutsch, englisch und arabisch finden Sie unter meinem Facebook-Profil: Hardy Prothmann
Twitter: hashtag #yms2010
Video: Auf dem Young Media Summit Blog finden Sie weitere Texte und die Videos zur Abschlussveranstaltung an der Universität Kairo
Viel Freude mit unserer Fotostrecke:
[nggallery id=142]
Folge uns!